Gerhard Fischer
Arthur Schnitzler · Anatol · 1892
Anatol besteht aus sieben lose verbundenen, in sich geschlossenen Einaktern
Weihnachtseinkäufe
Episode
Denksteine
Abschiedssouper
Agonie
Anatols Hochzeitsmorgen
Arthur Schnitzler · Gesammelte Werke · Die Dramatischen Werke · Erster Band Frankfurt am Main · S. Fischer · 1962
In der konventionellen Inszenierung von Hans Jaray aus dem Jahr 1986 spielte Michael Heltau den Anatol, Maria Nentwich die Gabriele. Die Bauten von Gerhard Janda zeigen eine verschneite Gasse in Wien, es ist Abend, Heiligabend. Die Laternen leuchten. Weihnachtseinkäufe 1986
Weihnachtseinkäufe
Personen: Anatol · Gabriele
Szenenbeschreibung: Weihnachtsabend 6 Uhr · Leichter Schneefall · In den Straßen Wiens
Nirgends in Filmen schneit es so dicht und unaufhaltsam wie in Max Ophüls kinetischen Lichtbildern. Eine Archäologie des Begehrens betreibt der Cineast vorzugsweise im Schnee, gleich Arthur Schnitzler, der unglücklich Liebende dem Schneeflockengestöber aussetzt.Im Einakter »Weihnachtseinkäufe« begegnet Anatol am Weihnachtsabend Gabriele bei eiligen Einkäufen in der Vorstadt: Es schneit unaufhörlich.
Auf der Bühne gab vor 60 Jahren Paula Wessely die Rolle der Gabriele, und in ihrem feinziselierten Sprechgesang konnte man die Silben wie Schneeflocken fallen hören.
Schnitzlers furiose Akribie , sein leidenschaftliches Bestreben stets das Äusserste an Ausdrucksdichte im Schreibakt zu erreichen, verlangt im Anatol - Zyklus einen Balanceakt, um die ornamentale Erotik des Fin de Siècle aufblitzen zu lassen.
Weiss in allen Abstufungen durchzieht den erotischen Diskurs von Anatol und Gabriele: Schöne, hypnotisierende Bilder des Begehrens und seiner unendlichen Beharrlichkeit.
Abschweifung über die Farbe Weiß
»…weiss ist wie ein Murmeln, Flüstern, Beten, was du anrührst ist sanft, nass und weich… verschleiert, abgeschwächt ist alles.« Robert Walser.
In der amerikanischen Literatur gibt es ein berühmtes Kapitel über die Farbe Weiß. Hermann Melville hat 1851 den Roman »Moby Dick« geschrieben. Im Kapitel »Das Weiß des Wales«, hat der Autor eine Anthologie von »weiß = gut / weiß = gleich böse« angelegt:
»Obwohl Weiß in derNatur die Schönheit vieler Dinge adelt und erhöht, als teilte es ihnen besondere, ihm innewohnende Reinheit mit, so etwa dem Marmor, der Kamelie, der Perle; obwohl verschiedene Völker ihm in mancher Hinsicht königlichen Vorrang vor allen anderen Farben zuerkennen – wie selbst den großmächtigen alten Königen von Pégu im fernen Indien der Titel 'Herr der weißen Elefanten' mehr als alle ihre sonstigen hochtönenden Bezeichnungen der Herrscherwürde galt und ihre Nachfolger in neuer Zeit, die Könige von Siam, das Konterfei desselben schneeweißen Vierfüßers auf ihrer Königsstandarte wehen lassen oder wie die Flagge des Haues Hannover als einziges Bild ein schneeweißes Schlachtross zeigt und das große Österreich, das cäsarische, der Erbe des weltbeherrschenden Rom, dieselbe kaiserliche Farbe als sein kaiserliches Banner führt, und obwohl das Menschengeschlecht selber diesen Vorrang verspürt, denn aus ihm leitet der weiße Mann seinen Herrschaftsanspruch über alle dunkler getönten Völker her; obwohl, von alldem abgesehen, Weiß sogar als Sinnbild der Freude betrachtet wird, denn bei den Römern bezeichnete ein weißer Stein einen Jubeltag; und obwohl in mancherlei menschlichen Beziehungen und Symbolen Weiß das Gleichnis für vieles Rührende und Verehrungswürdige ist: für die bräutliche Unschuld, die Milde des Alters; obwohl bei den Indianern Nordamerikas das Überreichen des weißen Wampumgürtels das unverbrüchlichste Gelübde bedeutete; obwohl in vielen Ländern das Weiß des richterlichen Hermelins die Majestät des Rechtes darstellt und milchweiße Rosse den Wagen von Königen und Königinnen ziehen und so Tag für Tag zur fürstlichen Prachtentfaltung beitragen; obwohl Weiß selbst in den tiefsten Mysterien der erhabensten Religionen das Sinnbild göttlicher Hoheit und Allmacht ist – denn bei den persischen Feueranbetern genießt die weiße doppelstrahlige Flamme auf dem Altar die höchste Verehrung, in den griechischen Sagen erscheint der große Zeus selbst in der Gestalt eines schneeweißen Stieres; und obwohl bei den edlen Irokesen die Opferung des geweihten Weißen Hundes zur Wintersonnenwende bei weitem die heiligste Feier ihres Glaubens war, denn sie meinten, dieses fleckenlose treue Geschöpf sei der reinste Bote, den sie dem Großen Geiste senden könnten mit der alljährlich erneuten Versicherung ihrer eigenen Treue; obwohl alle christlichen Priester unmittelbar von dem lateinischen Wort für Weiß den Namen für einen Teil ihres liturgischen Gewandes, die unter der Soutane getragene Alba oder Tunika, ableiten, und obwohl gerade Weiß dem heiligen Gepränge des katholischen Kultes bei den Feiern zur Passion des Herrn dient; und obwohl Johannes erschaute, wie jeglichem der Erlösten ein weißes Kleid gegeben ward und die vierundzwanzig Ältesten mit weißen Kleidern angetan vor dem großen weißen Stuhle standen, darauf der Eine saß, dessen Haupt aber und dessen Haar weiß war wie Wolle – dennoch, trotz dieser tausend Verbindungen, durch die das Weiß sich allem zugesellt, was ruhmvoll und erhaben ist, lauert etwas schemenhaft Unfaßbares im tiefsten Sinn dieser Färbung, das die Seele mit panischem Schrecken überfällt, grausiger als die Röte des Blutes.«
»Das Weiß des Wales«, in: Hermann Melville, Moby-Dick oder der Wal. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hans u. Alice Seiffert, Berlin 1954. Vgl. die neue Übersetzung von Mathias Jendis des Romans im Carl Hanser Verlag.
Man erkunde das Oeuvre Robert Rymans , worin Weiß zur Reflexionsgrundlage in der Malerei der Gegenwart erhoben wird.
Wien im Sommer 2020